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Flüchtlinge privat aufnehmen – 6 Geschichten aus der Community

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inem Menschen, der viel Leid in seiner Heimat ertragen und aus dieser fliehen musste, ein neues Zuhause zu schenken, birgt in vielen von uns die Sorge, sich in den eigenen vier Wänden eingeschränkt zu fühlen. Die Angst ist groß, dass man sich mit dem Flüchtling vielleicht nicht gut versteht oder das Leid, das der Person widerfahren ist, selbst nicht erträgt. Durch unsere Au-pair-Erfahrungen sind wir bereits einen Schritt weiter und wissen, wie es sich anfühlt, eine fremde Person ins eigene Haus und Herz aufzunehmen. Daher ist für uns klar: wir werden Flüchtlinge aus der Ukraine privat aufnehmen. Doch wie wird das werden? Diese sechs bewegenden Geschichten aus der Community und meinem Umfeld sollen euch Mut machen, eure Türen für Menschen in Not  zu öffnen. Denn wenn ihr dafür bereit seid, dann werden sie euer Leben bereichern. Vielleicht für immer.

Mein Sohn aus einer anderen Welt

2015 hatte Eva (damals 37 Jahre alt) ein Zimmer frei. Sie meldete sie sich bei Flüchtlinge Willkommen in Österreich an, einer Plattform, auf der sich Flüchtling und (WG-)Zimmergeber vernetzten können. Kurze Zeit später meldete sich die Organisation bei Eva, die damals alleinstehend war und das Zimmer gerne an eine weibliche Person untervermieten wollte. Doch nun stand er da: Abi aus Afghanistan, 17 Jahre, in Pakistan schon als Flüchtling aufgewachsen und nach Österreich gekommen. “Abi gehört einer schiitischen Minderheit im Land an, die durch ihr asiatisches Aussehen auffällt. Seine Brüder sind durch einen Bombenanschlag und bei der Flucht ums Leben gekommen”, so Eva. “Wir waren uns sofort sympathisch und es stellte sich heraus, dass er charakterlich mein Sohn hätte sein können. Mein Sohn aus einer anderen Kultur.

Da er in Pakistan eine englische Schule besucht hatte, konnte sich Abi gut verständigen. Schon nach zwei Monaten unterhielt er sich mit Eva auf Deutsch. Seit nunmehr sechs Jahren lebt Abi bei seiner Gastmutter und ihrem Partner in Österreich. Erst nach drei Jahren wurde sein Asylantrag bewilligt. “Ein harter Kampf, den wir gewonnen haben. Heute macht er eine Ausbildung zum IT-Techniker und ich bin wahnsinnig stolz auf ihn”, so Eva.

Gemeinsam mit Abi betreut Eva drei weitere junge Männer aus Afghanistan und hilft ihnen, sich in Österreich einzufinden. “Ich war immer froh, die Burschen um mich zu haben und habe mich zu keiner Zeit unsicher gefühlt. Besonders die gemeinsamen Kochabende waren und sind so bereichernd. Wichtig war mir, dass ich auf die Würde der geflüchteten Personen achte, sie nie minderwertig fühlen lasse, weil sie auf meine Hilfe angewiesen waren. Deshalb habe ich immer versucht, die Jungs schnell in eine Selbstständigkeit zu begleiten und damit in eine selbst bestimmte Normalität”, berichtet Eva. Sie kann jedem Mut machen, einen Menschen aus einer fremden Kultur bei sich aufzunehmen. “Man sollte einfach auf sein Bauchgefühl hören, die Chemie muss stimmen. Bei uns war das sofort zu 100% gegeben.”

Flüchtlinge privat aufnehmen: Abi (rechts) mit seiner Gastmutter Eva
Eva (Mitte) mit Abi (rechts im Bild), seinem besten Freund Mukthar (links) und Evas Partner Stefan (Fotograf) in Frankreich.

Flüchtlinge privat aufnehmen: Zwei Babys, zwei Kulturen

2016 lebte die schwangere Stephi (damals 26 Jahre alt) aus Ratingen kurzfristig in einer Wohnung in ihrem Elternhaus, weil ihr Mann beruflich in die USA musste. Durch ihre Mutter Eva (damals 61), die gerne einem Flüchtlingspaar helfen und eine weitere Wohnung im Haus anbieten wollte, lernte sie die hochschwangere Maryam und ihren Mann Emiras aus Eritrea kennen.

Das junge Paar war monatelang aus politischen Gründen unter anderem über Syrien auf der Flucht gewesen und erreichte 2015 Nordrhein-Westfalen. Die Zustände im Asylantencontainer waren schockierend für die schwangere Stephi und ihre Mutter. Obwohl Maryam und Emiras kein Englisch sprechen konnten, war die Kommunikation mit Mimik und Gestik relativ problemlos und vor allen Dingen sehr herzlich. Das Paar zog schnell in die  Wohnung im Elternhaus von Stephi ein. “Es war uns wichtig, dass wir den beiden zuhören, auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Gerade für Emiras war es wichtig, über das Erlebte zu sprechen und es so zu verarbeiten.” so Stephi. 

Es stellte sich heraus, dass die beiden Babys den gleichen errechneten Geburtstermin hatten. Was für ein Zufall! Stephis Tochter Emma und Maryams Sohn Wahli kamen tatsächlich wenige Tage versetzt zur Welt. Stephis Mutter Eva begleitete Maryam sogar als ihre engste Vertraute in den Kreißsaal, da Salin aus religiösen Gründen dazu nicht befugt war.

Heute lebt das Paar mit drei Kindern in einer größeren Wohnung und möchte in Deutschland bleiben. Der Kontakt zu Stephi und ihrer Familie ist immer noch eng. “Ich denke, wenn Menschen aus einer Not heraus aus einem Land flüchten, ist es für sie zweitrangig, wo sie eine Unterkunft bekommen, um in Sicherheit zu leben. Wichtig ist das Gefühl, dass ihnen jemand zur Seite steht, ihnen mit den alltäglichen Dingen Hilfe anbietet und dass ihnen jemand zuhört”, so Stephis Mutter Eva. “Für uns ist klar, dass wir wieder Flüchtlinge privat aufnehmen werden.”

Flüchtlinge privat aufnehmen: Maryam (links) und Stephi (rechts) mit ihren Babys
Maryam (links) und Stephi (rechts) mit ihren Babys
Flüchtlinge privat aufnehmen: Die Kinder von Maryam und Stephi kamen nur wenige Tage versetzt zur Welt.
Zwischen den Geburtstagen der beiden liegen nur wenige Tage

Eine ganz besondere Männerfreundschaft

Sayed kam mit seiner Familie 2021 aus Afghanistan nach Deutschland, als die Taliban die Macht in seiner Heimat übernahmen. Als deutsche Ortskraft hatte er berechtigte Sorge, dass er und seine Familie das Regime nicht lange überlegen würden. Sayed, der fließend Deutsch spricht und als Dolmetscher in Kabul tätig war, kam zuerst in einem Flüchtlingscontainer in Berlin unter. Ein winzig kleines Zimmer für ihn, seine Frau, die vier Kinder und seinen Bruder. Dort wartete er mehrere Monate auf einen verlängerten Aufenthaltstitel, um endlich eine Wohnung mieten zu können. 

Durch einen Zeitungsartikel wurde zufällig Harald Kuck aus Heidelberg auf Sayed und sein Schicksal aufmerksam. Er nahm über den Autor des Artikels Kontakt mit der Familie auf. Die Idee: ihnen seine 5-Zimmer-Wohnung kostenfrei zur Verfügung zu stellen. “Ich bin blauäugig daran gegangen, dachte, auch die Behörden würden sich freuen. Leider wurde ich eines Besseren belehrt”, so berichtet Harald. “Zuerst dachte ich, es wäre ein schlechter Scherz, als ich all die Formulare ausfüllte. Es geht doch um die gefährdete Familie einer Ortskraft aus Afghanistan, da darf der Weg doch nicht so steinig sein.”

Der Kampf um den Aufenthaltstitel und den Umzug nach Heidelberg ging weiter, die Freundschaft zwischen den beiden Familienvätern wuchs und wuchs. Kurz vor Ablauf des Visums schafften sie es gemeinsam, dass Sayed und seine Familie endlich die Sicherheit hatten, in Deutschland bleiben dürfen. Mittlerweile leben sie in Haralds Wohnung in Heidelberg, die Kinder gehen in Kindergarten und  Schule. Die Wohnung darf Harald ihnen nach wie vor nicht kostenlos zur Verfügung stellen und hat deshalb eine geringe Miete angesetzt, der das Jobcenter zum Glück zugestimmt hat.

Harald sieht seinen Beitrag im Wesentlichen im Kampf mit den Behörden, der leider weitergeht. “Oftmals geht es übrigens nicht um Einzelpersonen, sondern liegt es nur am “komplexen” System vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Verteidigungs- und Innenministerium, Ausländerbehörde, Jobcenter, usw.”, so Harald. “Dennoch bin ich froh, dass wir Sayed und seine Familie kennen gelernt haben und sie begleiten durften. Sie sind für mich das Paradebeispiel für gelungene Integration und Menschen, die herzlicher nicht sein könnten.”

Die Reportage zu der Geschichte findet ihr hier auf arte.tv. Momentan kämpft Harald zusammen mit Freunden für Farah aus Kabul, die mit ihrem gerade geborenen Baby in der Türkei festsitzt. Ihr Mann, Sayeds Bruder, wurde von der deutschen Bundeswehr evakuiert und lebt seitdem in Deutschland ohne sein Kind bisher kennengelernt zu haben. Mehr zu dieser bewegenden Geschichte erfahrt ihr auf gofundme.

Flüchtlinge privat aufnehmen: Harald Sayed in Heidelberg
Mit Haralds (links) Hilfe wurde Heidelberg auch zu Sayeds Heimat.

Unser größtes Glück: zwei Waisenkinder aus Afrika

Kurz nachdem Linda*, Mutter zweier Kinder, hörte, dass zwei Waisenjungen aus Afrika ein Zuhause suchen, ist für sie klar: sie nimmt die Kinder auf. Die Mütter der beiden kamen auf der Flucht um ihr Leben, die Väter sind unbekannt. Linda übernimmt sofort die volle Verantwortung für die hilfesuchenden Kleinkinder und lässt sie nicht nur in ihr Haus, sondern auch in ihr Herz. “Niemand kennt die Namen der verstorbenen Mütter, sodass die Jungs in unserem Land eigentlich keine Existenz haben. Und in ihrem Geburtsland, in dem Krieg herrscht, auch nicht. Sie wurden auf der Straße geboren. Ohne Geburtsurkunde bist du quasi niemand”, so Linda. 

Linda nahm (und nimmt) sich viel Zeit für die beiden verletzten Seelen, deren Trauma sich zuerst in Lethargie, Hospitalismus und Autoaggressionen zeigt. Langsam wächst die neue Familie zusammen. “In erster Linie habe ich sie und meine eigenen Kinder mit grenzenloser Liebe überschüttet. Niemand musste zurückstecken” so Linda.

Neben viel Bürokratie stößt Linda auch auf vorher nicht dagewesene Ablehnung innerhalb ihrer Familie. Plötzlich ist das Thema Rassismus akut. Aber auch das meistert sie mit ihrer Selbstsicherheit und Zuversicht. “Die zwei Jungs sind unser größtes Glück. Es war Schicksal, dass sie zu uns gefunden haben.” Nun bleibt die Hoffnung, dass auch unsere Behörden es genauso sehen und den verwaisten Kindern ihr Glück nicht nehmen und ein Aufenthaltsrecht auf Lebenszeit geben. Noch ist das leider nicht in Aussicht.

*Name geändert

Wie es ist, "Flüchtlingsgeschwister" zu haben

Als sich 1986 die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl ereignete, entschlossen sich die Eltern von Timna, zwei Kinder aus dem betroffenen Gebiet über die Sommerferien bei sich aufzunehmen. Timna zog deshalb ins Zimmer ihrer Schwester, sodass ein Junge und ein Mädchen in ihrem Haus Platz hatten. Für die Schwestern war die Situation sehr aufregend und sie verstanden sich mit beiden auf Anhieb gut. Sprachbarrieren gab es wenige und noch heute wünschen sich Timna und ihre Schwester am Telefon “Spokoynoy Nochi”, “Gute Nacht” auf russisch. Kontakt gibt es allerdings keinen mehr zu den beiden Flüchtlingen. 

“Diese Situation hat uns als Familie enorm gestärkt. Unsere Mutter war immer in der Flüchtlingshilfe aktiv und ist es noch heute. Man bekommt so viel Dankbarkeit und Freude zurück, dass einem total warm ums Herz wird. Jeder, der sich vorstellt, in so einer Situation zu sein, würde sich freuen, über eine Hand, die zu ihm ausgestreckt wird. Es färbt sich  positiv auf die Hilfsbereitschaft der eigenen Kinder ab. Es ist ein absoluter Mehrwert im Leben, Mensch in Not zu helfen”, so Timna.

Friedensdemonstration in Köln am 28.2.2022

Auf der Flucht

Eine ganz aktuelle Geschichte ereignete sich gestern (2.3.2022) im Leben einer meiner besten Freundinnen Reiki (35). Reiki lebt mit ihrem Mann Konstantin (51) und den gemeinsamen Kindern in Berlin. Da Reiki Schauspielerin ist und sehr flexibel arbeitet, hatte die Familie 2015 Au-pair-Mädchen Vika aus der Ukraine. Nach dem gemeinsam Jahr blieb sie in Berlin – das Band zwischen ihr und Reikis Familie durchbrach nie. 

Am 1. März 2022 rief Vika völlig aufgelöst bei Reiki an: Ihre schwangere Schwester Irina war mit ihrem neunjährigen Sohn Andrij auf der Flucht aus Kiew, der ukrainischen Hauptstadt, die aktuell unter Beschuss steht. Sie hatte eine Mitfahrgelegenheit zur Grenze Belarus/Polen, da sich dort aufgrund erhöhter Gefahr weniger Menschen aufhielten. Durch widrige Umstände musste sie das Auto an der Grenze verlassen. Minusgrade, kaum Übernachtungsmöglichkeiten, große Angst vor einem Beschuss: für Konstantin war klar, er würde sofort losfahren, um Irina und Andrij dort rauszuholen. Um 22:30 Uhr setze er sich mit Vika ins Auto und fuhr die ca. 850 Kilometer zur ukrainischen Grenze. 

Am nächsten Tag gegen 11:30 Uhr erreichten sie endlich das Gebiet. Die Krux: die Grenze durfte an dieser Stelle nur mit dem Auto passiert werden, nicht zu Fuß. Konstantin und Vika diskutierten mit der Polizei vor Ort, die nach kurzer Zeit zustimmten, sodass die schwangere Ukrainerin mit ihrem Kind endlich in die sicheren Arme ihrer Schwester geschlossen werden konnte. Aktuell sind sie auf dem Rückweg nach Berlin. Mutter und Sohn werden bei Reiki und Konstantin aufgenommen. Ich bin selbst sehr erleichtert, dass sie es geschafft haben. In den nächsten Tagen werde ich euch berichten, wie es weiter gegangen ist.

Flüchtling privat aufnehmen: Wo finde ich weitere Informationen?

Es ist nicht einfach an gute, hilfreiche Informationen das Thema betreffend zu kommen. Auch die Asylverfahren und bürokratischen Aufwände sind im Einzelfall völlig unterschiedlich. Es kommt zusätzlich auf die örtlichen Behörden an.

Ich habe hier ein paar seriöse Webseiten mit Informationen gefunden:

  • Wer sich für die Aufnahme eines ukrainischen Flüchtlings registrieren möchte, kann dies bei elior.network tun
  • Viele Informationen zum Thema findet ihr bei PRO ASYL
  • Zusammenbringen von Wohnraumgebenden und geflüchteten Personen gibt es auf zusammenleben-willkommen

Diese Liste wird fortlaufend erweitert.

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